Text aus der Publikation:
Now is life very solid or very shifting?
Imke Küster
Silvia Nettekoven stellt in ihrem Projekt die Frage: Kann das Unbewusstsein Raum und Zeit überwinden? Die Quelle ihrer schöpferischen Arbeit ist die eigene Biografie. So ist es auch bei ihrer aktuellen Arbeit und der hier vorliegenden Publikation „Now is life very solid or very shifing?“1
„Vor ungefähr zehn Jahren, 2013/14, ist mir aufgefallen, dass ich immer in dieser Haltung aufwache: auf dem Rücken liegend, Ellenbogen nach oben, der Handballen am Haaransatz, die Hand mittig auf dem Kopf. Die Haltung kam so of vor, dass ich sie mir gemerkt habe. […] Vor etwa zwei Jahren nahm ich mir vor, darauf zu achten, in welchen sonstigen Gesten und Haltungen ich erwache.“
Bei einem Besuch in der Antikensammlung Berlin entdeckt Nettekoven die Exekias-Scherben. Einige der dort auf den Scherben gezeichneten Figuren berühren und halten ihre Hände in einer nahezu identischen Haltung, wie sie selbst beim Aufwachen an sich beobachtet hatte.
Die Übereinstimmung ist für sie in vielerlei Hinsicht mehr als überraschend:
Zum einen hat Silvia Nettekoven diese Haltungen, wie sie selbst beteuert, nirgendwo jemals zuvor gesehen. Zum anderen sind auf den antiken Scherben Trauer- und Klagesituationen dargestellt. Auch Nettekoven befand sich in einer Trauerphase als sie zum ersten Mal bei sich jene Haltungen wahrnahm.
Ausgehend von dieser Entdeckung beginnt Nettekoven ihr Aufwachverhalten zu dokumen-tieren. Sie notiert ihre Haltungen und Gesten beim unmittelbaren Erwachen und hält sie in schnellen Skizzen fest. Insgesamt kann sie zwanzig Gesten und Haltungen identifizieren, wovon sich einige wiederholen und andere in Mischformen vorkommen. Sie recherchiert in verschiedenen Museen, Bibliotheken sowie online und kann zu allen ihren Aufwachpositionen Entsprechungen in Artefakten finden. Daraus entwickelt sie die erste Fragestellung: Was drücken diese Gesten aus, für die sie im Alltag keine Entsprechungen findet?
Silvia Nettekoven betrachtet ihr Forschungsthema aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen und sucht dafür Ansprechpartner:innen aus den Bereichen Archäologie, Sozio-logie, Psychoanalyse, Biochemie, Kunst, Tanz- und Theaterpädagogik, Physiotherapie sowie Yoga und Meditation. In allen Gesprächen und Interviews steht das Unbewusste von Körper und Geist im Zentrum.
Im hier vorliegenden Buch und in der aktuellen Ausstellung geht es um die menschliche Existenz und die Frage: Wie und in welcher Form kann längst Vergangenes aus der Mensch-heitsgeschichte unbewusst durch unseren Körper in die Jetztzeit übermittelt werden?
Die antiken Scherben, mit denen Nettekovens Forschung beginnt, stammen vom alt-griechischen Vasenmaler Exekias. Seine Figuren zeichnen sich durch detailgetreue,
in feiner Linienführung gezeichnete schwarze Silhouetten aus. Sein Stil prägt mehrere Generationen. Auch die Art der Positionierung der Figuren auf den Keramiken ist besonders. Wie im Chor aus dem Theater der griechischen Antike präsentiert Exekias seine gemalten Gestalten.
Der Chor hat seit dem Dionysoskult die Funktion, das Publikum über die Rahmenhandlung der Tragödie oder Komödie zu informieren und das auszudrücken, was die Hauptcharaktere nicht zu sagen vermögen, wie etwa Ängste oder Geheimnisse. Das Publikum versteht die Aussagen auch durch die jeweils eingenommenen Körperhaltungen und dem ausdrucks-starken Gebärdenspiel.2 Die Botschaften im Theater oder auf den Keramiken wurden vom damaligen Publikum bzw. den Betrachtenden sofort verstanden.
Aus heutiger Sicht sind die Arbeiten Exekias‘ ästhetische Kleinode, jedoch fehlt uns der Kontext, um sie zu entschlüsseln und zu verstehen. Im Gespräch mit dem Archäologen Guido Petras kann Silvia Nettekoven die eigenen Aufwachpositionen als Klage- und Adorationsgesten deuten.
Aus der Tanz- und Theaterpädagogik wissen wir, dass unser Körper mit jeder Gestik und Haltung „spricht“: nicht nur zu anderen, auch zu uns selbst. So erarbeitete Nettekoven im Gespräch mit der Theaterpädagogin Anke Krahe die Annahme, dass die Übereinstimmung ihrer Körperhaltungen mit den Figuren auf den antiken Scherben auf eine Art „fremdes“ Köpergedächtnis verweisen könnte.
Dieses Körpergedächtnis und auch unser Unterbewusstsein speisen sich nicht nur aus den eigenen Erfahrungen, sondern dem, wie C.G. Jung es nennt, „kollektiven Unbewussten”.
C.G. Jung unterscheidet zwischen dem persönlichen und kollektiven Unbewussten.
Das „kollektive Unbewusste” ruht „in tiefer Schicht, welches nicht mehr persönlicher Erfahrung und Erwerb entstammt, sondern angeboren ist“.3
Das heißt: Auf der einen Seite wirkt das Unterbewusstsein in Korrespondenz mit persön-lichen biografischen Erfahrungen. Auf der anderen Seite „verfügen“ der Köper und der Geist über ein Unterbewusstsein, welches der gesamten Menschheit gemeinsam ist. Dieses tritt zu Tage bei Komplexkonstellationen4 wie Trauer, Wut, Enttäuschung oder Verletzungen.
Erich Neumann schreibt in „Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestal-tungen des Unbewussten“: „So erfährt der moderne Mensch auf neuer Ebene das Gleiche, was der ursprüngliche Mensch intuitiv und überwältigt erfahren hat“.5 Der Mensch „durch-lebt“ in seiner Entwicklung die verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte für sich aufs Neue. Zu beobachten ist dies etwa, wenn Kinder spielen. Je kleiner sie sind, desto archaischer ist ihr Spiel. Je größer Kinder werden, umso komplexer werden ihre Spiele und die damit verbundene Interaktion untereinander.
Archetypen finden sich auch beim Yoga und der Meditation wieder. Bei der Selbst-beobachtung konnte Nettekoven zwanzig Gesten und Haltungen festhalten und beobachten, dass sie mit der Faust an der Wange aufwachte, oder der Daumenknöchel auf die Stirn drückte. Jede dieser Positionen stimuliert den Geist. Die Selbstberührung ist eine Form der Selbstheilung und der Selbstwahrnehmung. Die Traumatherapeutin Kati Bohnet verweist auf den Vagusnerv. Dieser ist eine regulierende Schaltstelle zwischen dem Gehirn und den Organen. Er ist, so Kati Bohnet, sehr wichtig für unser soziales Kontaktsystem, für die Selbstregulation und soziale Interaktion.
Bei Nettekovens Spurensuche nach dem Ursprung ihrer Aufwachpositionen stellen die Illustrationen zu ihren Köperhaltungen eine wichtige Quelle dar. Silvia Nettekoven schafft in dieser Weise eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und künstlerisch-ästhetschen Beiträgen. Nur so können die Betrachtenden verstehen, um was es ihr geht. Vielleicht finden sie auch Entsprechungen zum eigenen Körperverhalten, widergespiegelt in der Kunst, und stellen sich ebenfalls die Frage: Gibt es da im Unbewussten eine Verbindung in (diese) alten Zeiten?
Der Philosoph Martin Seel nennt das „Weltweisenwahrnehmung“ und „Weltartikulation“6. Kunst hat die Fähigkeit uns unmittelbar anzusprechen. Das gilt für jegliche Formen aller Epochen. Wir haben beim Betrachten von Kunst manchmal das intensive Gefühl, uns wird aus der Seele gesprochen und wir sind über ein unsichtbares Band durch Raum und Zeit mit dem Werk verbunden. Silvia Nettekoven stellt im Gespräch mit der Yogalehrerin Sabine Klos und der Meditationslehrerin Susanne Tüllmann fest: „Das stimmt, die Artefakte aus Kreta, die minoische Kultur, aber auch die Antike, die archaische Zeit – irgendwie erzeugt das in mir eine Resonanz.“7
Nettekovens Resonanzgefühl wird uns in ihrer Ausstellung erfahrbar gemacht. Die Abbildungen der Tonscherben auf den Wänden und die auf Nesselstoff übertragenen wissenschaftlichen Zeichnungen treten in einen Dialog mit den nahezu lebensgroßen Silhouetten aus schwarzer Pappe in den Formen der verschiedenen Aufwachpositionen. Ergänzt wird der Dialog durch Zitate aus den Gesprächen.
Ausstellung und Katalog laden uns ein, darüber nachzudenken, ob wir nicht vielleicht doch mit verschiedenen Realitäten aus Zeiten verbunden sind, die wir Vergangenheit nennen. So stellt Nettekoven im Interview mit Anke Krahe die interessante Frage:
„Wie begrenzt ist eigentlich das persönliche Leben, ist das nicht nur eine Illusion?”8
1 Virginia Woolf: „A Writer’s Diary, 4 January 1929“, The Diary of Virginia Woolf, vol. 3 1925–1930.
2 Wolfgang Schadewaldt: Hellas und die Hesperiden, Zürich, Stuttgart 1970. S. 33.
3 C.G. Jung: Archetypen. Urbilder und Wirkkräfte des kollektiven Unbewussten, Ostfildern 2018, S. 8.
4 Ebd., S. 120 f.
5 Erich Neumann: Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Olten 1997, S. 309.
6 Martin Seel: „Kunst, Wahrheit, Welterschließung“, in: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt am Main 1991, S. 36–80., hier S. 44.
7 In dieser Publikation, S. 87.
8 In dieser Publikation, S. 83.
Now is life very solid or very shifting?
Herausgeberin: Silvia Nettekoven
Verlag: eine-art-fabrik, Berlin, 2023
20,- Euro
ISBN 978-3-9822440-5-1