Texte

Phantastische Wesen
Hanne Loreck

Katalogtext anlässlich der Ausstellung Früchte, Bahnhof Westend, Berlin, 1995

Phantastische Wesen und Riesen bevölkern Mythologien, Legenden und Märchen, Menschenfresser darüber hinaus auch (historische) Berichte über Rituale jener fremden Kulturen, in denen es Kannibalismus gibt. Es sind unheimliche Figuren, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit schwanken und als Teil einer psychischen Realität eine imaginäre Wirkung haben. Warum man Riesen und Menschenfresser ohne weiters Nachdenken für männlich hält, wäre zu fragen…
Silvia Nettekovens in der Art eines figürlichen Fetisches aus Stoffresten grob zusammengestückelter sitzender Riese und ihr aufrechter Menschenfresser vermitteln das Symbolische mit dem Imaginären: Jemanden zum Fressen gerne haben heißt, die Grenzen zwischen sich und dem begehrten Anderen in der Einverleibung aufheben zu wollen. Aber schon in der lustvoll-genüßlichen Dimension, mit der man kleinen Kindern spielerisch in den Arm beißt, deutet sich die Gewalt an, mit der man gerne Aufklärung über das unbekannte Innere des anderen suchte. Wie auch in der Fresssucht, durch die das Problem nach innen verlagert wird, als Ersatz für das Begehren des Anderen. Silvia Nettekoven verwendet die Metapher des Riesen, die als Figur des Unbewussten ihr Spiel mit dem Subjekt treibt, indem sie dem Betrachtersubjekt einen Einblick in das Innere gewährt. Dort kann er hinter der Stirn Gedanken lesen und wird Zeuge der traumatischen Wiederholung:…Same old fucking problems, Same old shit, Same old me, …steht auf herausnehmbaren Zetteln geschrieben.
Es ist die Buchstäblichkeit, die in den Arbeiten von Silvia Nettekoven radikale Formen annimmt, radikal, denn die Harmlosigkeit in der Kindlichkeit der Machart und der rohen Proportionen ihres blauen Spielungeheuers entpuppt sich als Schein.