Texte

Die Wunder hören nicht auf¹

Gedanken zum Werk von Silvia Nettekoven
Anke Paula Böttcher

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang …

(Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien,
Die erste Elegie, 1912)

 … Zwischen den Zeilen Gejammer
               auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der
Schrecken.

(Heiner Müller, Bilder, 1955)

Abb.1: Menschenfresser, 1994, Silvia Nettekoven
Abb.1: Menschenfresser, 1994, Silvia Nettekoven

Ein riesiges, sonderbares Wesen steht im Raum – Totenschädel, kleine Menschenpuppen und Haare in den kräftigen Händen, am Gürtel seiner abgerissenen Hose, an einer Kette, die den nackten Oberkörper bedeckt. Etwas unbeholfen, ja nahezu schüchtern und selbst befremdet wirkt es. Der halb geöffnete Mund – Was verschwand in dem Schlund? – deutet eher ein schüchternes Lächeln an, als dass es ihn gierig aufreißt. Kleine Augen blicken uns fragend an und zugleich über uns hinweg in eine fremde Ferne – in des Sonderlings Heimat?
Man möchte Silvia Nettekovens Menschenfresser (Abb. 1) zögernd entgegentreten, ihm vorsichtig das kleine Menschlein aus der Hand nehmen, ihm die Hand schütteln und willkommen heißen in unserer zivilisierten Welt, die mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat, als sich ein Menschenfresser je vorstellen könnte.
Unter dem Eindruck ihrer Reisen nach Mittel- und Südamerika entstanden, ist die Erschaffung und Präsentation dieser Figur Kraftakt wie Mutprobe der Künstlerin. Ein Wesen, das über sie selbst hinauszuwachsenscheint und mit dem sie sich selbst überraschte. Sie schuf ein beseeltes Objekt, dem man mit Furcht und Ehrfurcht begegnet – Beschützer und Gefährder in einem, eine Art ambivalenter Engel, alles in allem: ein Gefährte. Mit seiner geheimnisvollen Präsenz spannt er jenen Bogen, der auch zwischen den Eingangszitaten von Rainer Maria Rilke und Heiner Müller kenntlich wird und als programmatisch für Silvia Nettekovens Schaffen angesehen werden kann, in dem sie das Gegenläufige vereint und das Verschüttete aufdeckt. Nicht der urzeitliche Jäger ist der grausame Mörder, sondern das kalkulierte, technisierte Auslöschen des Lebendigen. Solch folgenschwerer Ausdruck eines übersteigerten oder fehlenden Selbstbewusstseins beginnt in den Köpfen, in den Menschenköpfen – der Schaltstelle, wo Bewusstes und Unterbewusstes interagieren.
Das Dunkle im Licht zu betrachten, sich ein Bild vom Fernen oder Fremden zu machen, ihm Gestalt zu geben, es anzuschauen: Solche Art des Zusammendenkens könnte eine Umgestaltung einleiten. Sie kann oder soll das Schreckliche nicht nivellieren, sondern könnte es in einen größeren Zusammenhang stellen und damit gegen jene Angst antreten lassen, die Schreckliches erst hervorbringt. Derart holistische Ansätze und (Er)Klärungsversuche sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Auf die ihnen innewohnende Kraft der Verwandlung sowie auf deren Aktualität weist uns Silvia Nettekoven hin, thematisiert und praktiziert sie in ihren Arbeiten.

Schon die Titel von Serien wie Metamorphosis (2016–2017) oder Changes (2015) kündigen dies an. In den Zeichnungen und Collagen verbinden sich Figurationen und Objekte aus antiken Mythologien mit Relikten unserer Gegenwart.
Dunkles aus grauer Vorzeit wird hell und tritt hervor, geht ein Bündnis mit dem Bunten und Tanzenden aus anderen Kulturkreisen ein. Ein Stoffmuster tritt in Dialog mit Figuren und ihren Attributen. Eine filigrane Linie tanzt sich zur Gestalt. Alles erhält im Zusammenklang neue Bedeutungen. Wie im Traum oder bei der Lektüre eines Märchens wird man nicht nur Zeuge einer vielschichtigen Narration, sondern durchlebt mit eigenen Sinnen – eigensinnig! – solche Verwandlungen von mythischen Wesen, Menschen, Tieren, Pflanzen oder Gottheiten. Wir erkennen Gesten, Situationen, die wir meinen, schon einmal erlebt zu haben und plötzlich neu und anders erinnern. Wie mit träumender Hand führt Silvia Nettekoven Pinsel und Stift, platziert Stoffe, Muster und trägt Schicht für Schicht aus einem Innen, aus einer anderen Gegenwart, aus anderen Zeiten und Räumen ab und aufs Papier auf. Wie viel Welt, wie viel Geschichte, wie viele Geschichten passen auf ein Blatt Papier? In einen kleinen Kasten? (Living in a Box, 2018) In einen Moment? Silvia Nettekovens sinnliche Erzählweise bricht dabei die Hierarchien eines Gestern und Heute, eines Hier und Dort, die Idee vom linearen Fortschreiten auf. Das Wandern durch ihre ebenfalls offenen und ohne lineare Chronologie angelegten Szenarien birgt das Abenteuer von Zeit und Weltenreisen, bei denen es keine oder nur noch fließende Grenzen gibt. Die in den Blättern und Objekten lodernde Gleichzeitigkeit gibt uns davon Bericht, wie alles mit allem verwoben ist.

Silvia Nettekovens Tätigkeiten außerhalb der ‚freien Kunst’ – sie arbeitet auch als Schneiderin, Grafikerin, Zeichnerin – fließen in ihre Bildwelten ein und zeugen von der Meisterschaft ihrer künstlerischen Fertigkeiten, die sie in ihren Arbeiten ‚frei’ und ‚unfertig’ einsetzt. Ihre Zeichnungen (beispielsweise die 2017 entstandenen Landschaftsaquarelle) und textilen Objekte (beispielsweise die Federobjekte von 2016) zeugen davon, wie virtuos sie ihre Handwerke beherrscht. Doch die Demonstration eines ‚Könnens’ oder ein fertiges Kunstprodukt sind der Künstlerin nicht wichtig. Vielmehr geht es ihr um eine durchlässige Offenheit, um ein Ringen, das Überraschungen ebenso wie Vergeblichkeiten einschließt. Das Interesse am Spirituellen, am Mythologischen und am Archaischen in Verbindung mit biografischen Bezügen sind die theoretische Basis ihrer schöpferischen Praxis, bei der „eine eigene Entwicklung im Bewusstsein […] von einem unterbewusst entstehenden Werk begleitet und visualisiert² wird. Das intuitive, nicht kalkulierte Experimentieren mit dem stofflichen und geistigen Material bestimmt die Genese ihres Werks.
Inmitten von dessen Vielgestaltigkeit fallen wiederkehrende Figurationen, Leitmotive auf. Evident wird das an einer Frauenfigur, die als Große Mutter in tausendfachen Erscheinungen die Mythen und Religionen der Menschheitsgeschichte maßgeblich prägt, so wie sie in immer neuen Variationen in Nettekovens OEuvre auftaucht. In Carl Gustav Jungs Analytischer Psychologie verkörpert ‚sie’ einen der wichtigsten Archetypen. Besonders in den 2018 entstandenen Tuschezeichnungen, aber auch schon im Zeichnungszyklus Diary (2003) begegnen wir auf einem Blatt (Abb. 2) zwei Darstellungen jener Muttergöttin: Im rechten Bildrand ist ‚sie’ uns als Kali direkt zugewandt. Kali vereint in der indischen Mythologie als Göttin der Transformation die destruktiven und konstruktiven Kräfte. Zumeist erscheint sie schwarz oder blau mit mehreren (vier oder zehn) Armen. Oftmals trägt sie eine Halskette aus Schädeln, einen Rock aus abgeschlagenen Armen, mitunter hängt ein totes Kind an ihrem Ohr. (Abb. 3) Trotz der schreckenerregenden Attribute gilt die vermeintliche Menschenfresserin als Beschützerin und göttliche Mutter, deren zerstörerische Wut sich nicht gegen Menschliches, sondern gegen Dämonisches und Ungerechtes richtet.
Wir begegnen Kali beispielsweise wieder in Mexiko als Aztekengöttin Coatlicue, auf Kreta als Rhea, in Irland als Cailleach oder bei den Roma als schwarze Sara-Kali, von welcher plausibler Weise eine Verwandtschaft zur Schwarzen Madonna im Christentum angenommen wird.³
Eine Spielart jener „schwarzen Madonna mit Kind“ erscheint in der erwähnten Zeichnung (Abb. 2) von Silvia Nettekoven als zweites Motiv: Eine an den Schultern angeschnittene ‚moderne Maria’ in schwarzer Schraffur, mit gekürztem, offenem Haar wendet uns den Rücken zu, während ihr Kind den Kopf über die Schulter legt und den Blick auf uns richtet. In der Betrachtung werden wir der dialektischen Spiegelung gewahr: Sowohl der Blick der in Maria sich spiegelnden Kali als auch der des Nachkommen Marias führt aus den Bild hinaus, öffnet es und trifft sich im Auge der/des Betrachtenden.

Abb. 2: Diary, Kugelschreiber auf Papier, 18 x 40 cm, 2003
Abb. 2: Diary, Kugelschreiber auf Papier, 18 x 40 cm, 2003

Die Muttergöttin als Symbol für eine wirksame und funktionale existenzielle Kraft zieht sich durch die menschliche Kulturgeschichte und deren Ikonografien. Ihre vielfältigen Erscheinungsformen als Versinnlichung eines grundlegenden geistigen Prinzips finden sich gleichsam in den Arbeiten von Silvia Nettekoven wieder.

Abb. 3: Kali-Heiligtum, Westbengalen, Indien. Abb. 4: Trauerpuppe, Chancay, 1100–1400, Peru. Abb. 5: Präkolumbischer Federmantel, Tupinamba, 17. Jahrhundert, Brasilien.

Besonders deutlich wird dies in ihrem Werkkomplex Time has told me (2006–2012), den man inhaltlich wie formal als ein Schlüsselwerk und als Scharnier im Schaffen der Künstlerin betrachten kann. Es begann mit den sogenannten Telefonzeichnungen. Auf kleinformatigen Blättern manifestiert sich aus den Schichten des Unterbewussten das, was man planend nicht aufs Papier bekommt. Neben anderen Situationen (Paare in Beziehung zueinander oder in Landschaften, Schriftzügen) nehmen Zeichnungen, die an Darstellungen der Großen Mutter im weitesten Sinne erinnern, einen großen Raum ein. Besonders sie sind es, welche die Künstlerin auswählt und auf etwa 100 Blättern im A4-Format zeichnend weitertreibt, vertieft, konkretisiert, kommentiert. (Time has told me 2, Zeichnungen, 2006–2007) Von ihnen blieben neun Motive, aus welchen Silvia Nettekoven zwischen 2006 und 2012 jeweils neun textile Figuren und Textilcollagen schuf. (Time has told me 3 und 4, 2006–2012) So entstanden beeindruckende Objekte, die den Mut zur ungewohnten und tiefsinnigen Geste der Künstlerin beweisen und die grundlegenden Motive und Elemente ihres Ausdrucksrepertoires vereinen und zur Entfaltung bringen. Das Formen von ‚Puppen’ aus Stoffen wie auch das Zusammenfügen von Stoffen zu Bildern ist eine Produktionsform, die vornehmlich den Tätigkeitsbereichen der Frau zugeordnet ist und die historisch andere Zeiten und andere Kulturkreise einbindet. Den auf dem Papier gefundenen Themen und Figurationen wird nun der Weg ins Dreidimensionale und in die große bunte Fläche eröffnet. Jede ‚Puppe’ verkörpert eine der für die Künstlerin wesentlichen Figuration/Situation und korrespondiert mit dem ihr zugeordneten ‚Wandteppich’. Das jeweils Charakteristische des zeichnerischen Motivs wird aus Stoff nachgeformt und die Binnenzeichnungen mit Garn, Wolle oder Schnur auf dem Körper eingezeichnet. Diese Wesen insgesamt erinnern an die Stoffpuppen der peruanischen Canchay-Kultur⁴ (Abb. 4) oder auch an überdimensionale, zeitgenössische Sorgenpuppen, wie wir sie aus Mittelamerika kennen. Bei den neun Gesten und Haltungen – jede birgt einen eigenen Kosmos an Geschichten und Assoziationen – ist abermals das dialektische und harmonisierende Spiel mit dem Gegensätzlichen und das Metamorphotische zu beobachten. Wir begegnen dem freundlich schauenden Menschenfresser (oder der Menschenfresserin) wieder, diesmal im Blumenkleid ihre/seine Horde Kinder zärtlich und schützend im Arm haltend. Aus dem Kopf der blauen ‚Kali’ wuchert eine schwarze Form gen Himmel, gefolgt von den blauen Linien auf ihrem Kleid, während die schwarzen Linien entgegengesetzt die Erde suchen. Aus Köpfen wuchert – Hörnern gleich – Ast- und Zweigwerk, als verwandele sich die Frauengestalt in einen Baum. Das helle Haar der schwarzen Madonna ergießt sich über den Körper und zieht die Göttliche förmlich auf die Erde zurück. Aus einem Körper wachsen zwei Köpfe, der schwarze wird von blauen Tränen gen Boden gerissen, während seine lichte Gegenspielerin stolz himmelwärts schaut. Die doppelgesichtige Madonna mit dem Kind weitet die Perspektiven, sie schaut mit dem Kind in die Ferne und befindet sich zugleich im Zwiegespräch, während das Kind in der Umarmung der Mutter das Geteilte vereint. Wie viele ist ‚sie’? Wer ist oder sind ‚sie’? Diese beseelten, fetischartigen und magisch aufgeladenen ‚Puppen’ ziehen einen in Bann, sie sprechen eine uralte Sprache, die wir meinen verlernt zu haben und fordern uns auf, mit ihnen und mithin mit uns selbst in Kontakt zu treten. Ihre auratische Ausstrahlung erinnert abermals an Artefakte ferner Kulturen (Abb. 5) sie stellen Bezüge zu anderen Werkgruppen wie den Federobjekten oder dem Collagen-Zyklus Persona her. Die geheimnisvolle Präsenz der ‚Puppen’ steigert sich in der Korrespondenz mit ihren eigenen Abbildern, den überlebensgroßen Zeichnungen auf den Wandbehängen. Das kompakt Körperliche ist hier aufgehoben, lediglich die Umrisse der Figuren und Binnenattribute sind noch kenntlich. Eingezeichnet sind sie in schrille Collagen einer schrillen Zeit. Zumeist ihrer Funktion entbundene, entsorgte und gefundene ‚Fetzen’ unserer Zivilisation sammelte Silvia Nettekoven mit einer Wertschätzung für die ‚Dinge’ des Lebens und fügte sie – analog zu ihren Papiercollagen – neu zusammen zu großen Erzählungen aus Bild und Text, aus Farbe und Muster, aus Ornament und Parole, verwebte sie zu ‚modernen Gobelins’, die in der Zeit sind ebenso wie sie aus der Zeit gefallen scheinen. Wie feenhafte, mystische Wesen erheben sich aus dem Neben- Unter- und Übereinander der textilen Bildelemente die ‚Madonnen’ und ‚Sorgenpuppen’ und tauchen zugleich darin ein oder unter. Zeitgeistiges Material und das zeitlose Prinzip eines Geistigen, Chaos und Kosmos feiern hier Hochzeit.

Ein Werk wie Time has told me ist die Bestätigung von Silvia Nettekovens künstlerischem Weg, den sie als risikoreiche Gratwanderung beschreibt, welche sich außerhalb vom „sicheren Bereich der Konsens-Kunst“⁵ bewegt. In einem „Daneben“ oder „am Rande“ verortet Nettekoven ihre künstlerische Position.⁶ Wendet man die Perspektiven und Dimensionen, dann wird der Rand plötzlich zum Zentrum komplexerer, weitreichender Beziehungs- und Bezugssysteme. Mit solcher Wendung steht die Künstlerin plötzlich in der Mitte des ‚Geschehens’ und man erkennt ihre Nähe zur Art Brut oder zur animistischen Kunst anderer Kulturen ebenso wie eine Art Verwandtschaft zu Künstlerinnen wie Frida Kahlo, Louise Bourgeois oder Unica Zürn. Sie alle betrachteten das persönliche Schicksal in einem größeren und tieferen Zusammenhang und wussten dies auf unverwechselbare Weise auszudrücken. Analog zur Vielgestalt der Großen Mutter erfindet Silvia Nettekoven sich und ihre Bildwelten immer wieder neu, dem Existentiellen folgend, von innen nach außen, von außen nach innen. Sie ist viele, wir sind viele. Nettekoven scheut sich nicht, Alteritäten anzuerkennen, sie miteinander in Kontakt zu bringen und diese Herausforderung auch dem Rezipienten anzutragen. Denn, so schreibt sie, „auch für den Betrachter bleiben meine Arbeiten ‚offen’, vielleicht auch unvollendet in dem Sinne, dass das Werk sich auf keine fassbare Aussage reduzieren lässt.“⁷

In ihrer jüngsten Serie Persona (2018) intensivierte Silvia Nettekoven die Struktur der Schichtung und holte sich hierfür die Fundstücke aus der Tiefe des eigenen künstlerischen Fundus’. Aussortierte Relikte früherer Papierarbeiten werden neu kombiniert und überschreiben ihre Herkunft und Geschichte mit neuen Geschichten, holen sie ins Jetzt und Heute. Es entstehen Objekte, deren dritte Dimension sich aus den bildlichen und gedanklichen Überlagerungen ergibt. Der Rahmen eines konventionellen Blattformates ist aufgelöst, Reste von Figürlichem werden Teil des Großen und Ganzen einer Bildlandschaft, deren Teile ineinander greifen und miteinander flimmern, ja lodern, und mit der die Künstlerin den Bogen wieder hin zum Malerischen spannt. Doch auch hier scheint es so, als wäre die Große Mutter schemenhaft anwesend, um die gegenläufigen Kräfte in Balance und Bewegung zu halten. Damit die Wunder nicht aufhören…

Silvia Nettekovens Werk erinnert in seiner Vitalität und Unberechenbarkeit an jene „Unordnung“, der Michael Foucault in den Geschichten von Jorge Luis Borges begegnet und „die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten lässt […] Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang schimärisch ist. Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, dass dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen…“⁸ Zwischen Trost und Unruhe, zwischen Utopischem und Heterotopischem wandelt man, wenn man Silvia Nettekovens Bildwelten durchwandert. „Das Schreckliche liegt ebenso im Schönen beschlossen wie das Schöne im Schrecklichen. Das Leben ist in diesen bis zum Absurden großartigen Widerspruch verwickelt, der in der Kunst als zugleich harmonische und dramatische Einheit auftaucht. Das Bild ermöglicht es, jene Einheit wahrzunehmen, wo alles einander benachbart ist, alles ineinander überfließt.“⁹ Die Künstlerin erwähnte in Zusammenhang mit ihrem Interesse an der Vor- und Frühgeschichte, dass noch in den Genen des Menschen der Gegenwart zwei Prozent Neandertaler stecken würden. Vielleicht sind im Menschen zusätzlich auch zwei Prozent Engel verborgen. Dann würden aus Wunden Wunder werden – eine wünschenswerte Metamorphose, wie wir sie im Werk von Silvia Nettekoven erleben können.
Anke Paula Böttcher, Mai 2019



1. Spruch der Ovambo, Namibia.
2. Silvia Nettekoven im Gespräch mit der Verfasserin, 07.05.2019.
3. Vgl. Elizabeth U. Harding:
Kali. The Black Goddess of Dakshineswar, Delhi 2004, S. 64–68.
4. Die Canchay-Kultur hatte ihre Blütezeit 100–1300 v. Chr. in Peru. Zu den opulenten Grabbeigaben der Verstorbenen zählten auch textile Puppen mit menschlichen Zügen. Zumeist handelte es sich dabei um Frauenfiguren, die etwa 20 Zentimeter hoch, mit Naturfasern gefüllt, mit echtem Haar und edlen Kleidern versehen waren.
5. Silvia Nettekoven: „Künstlerisches Statement“, https://silvia-nettekoven.de/Texte/ (zuletzt eingesehen am 13.5.2019)
6. Silvia Nettekoven im Gespräch mit der Verfasserin, 07.05.2019.
7. Silvia Nettekoven: „Künstlerisches Statement“, https://silvia-nettekoven.de/Texte/ (zuletzt eingesehen am 13.5.2019)
8. Michel Foucault:
Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974, S. 20.
9. Andrej Tarkowskij:
Die versiegelte Zeit, Frankfurt am Main, Berlin 1988, S. 45.

Abbildungsnachweise

Abb. 1: Foto: Henryk Weiffenbach
Abb. 3: Christina Kundu
Abb. 4: privat
Abb. 5: Musées Royaux d’Art et d’Histoire, Brüssel.

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